Lindaus Sportart Nr. 1 spielt sich auf gefrorenem Wasser ab: Die EV Lindau Islanders spielen in der dritthöchsten deutschen Eishockey-Spielklasse. 

Es ist einer dieser Spätsommertage, auf die man am Bodensee auch im späten Oktober noch hoffen darf. Um die 15 Grad Celsius zeigt das Thermometer kurz vor 18 Uhr, auf der Rasenfläche zwischen dem Freibad am Eichwald und der Lindauer Eissportarena kickt eine Gruppe junger Männer im T-Shirt, im Hintergrund glitzert der Bodensee. Ein perfektes Ende eines schönen Tages, mag man denken, dabei ist dies die Ruhe vor dem Sturm. Bald werden die Männer ihr Warm-up im Grünen beenden, sich in ihre Montur zwängen und um einen Puck kämpfen. Normalerweise sind zwei Stunden vor Spielbeginn noch keine Zuschauer da, aber heute steigt das Spiel des Jahres. Es ist Derbyzeit, die Lokalrivalen der Memmingen Indians sind zu Gast bei den Lindau Islanders. Heute wird es heiß auf dem Eis.

Dass in einer Inselstadt im Bodensee die beliebteste Sportart etwas mit dem Element Wasser zu tun haben könnte, liegt auf der Hand. Aber Eishockey? Das mag dann doch überraschen, wenn man die Tradition dieser Sportart in Deutschlands Süden nicht kennt. In Lindau begann sie kurz nach Ende des 2. Weltkriegs am Aeschacher Ufer. 1976, als die Eislaufbahn am Eichwald öffnete, gründete sich auch der EV Lindau, Mitte der 1980er-Jahre hatte die erste Mannschaft, noch unter freiem Himmel, erstmals richtig Erfolg. Weil der bekanntlich sexy macht, kamen 400, manchmal gar 600 Zuschauer zu den Heimspielen. Die Presse wurde aufmerksam, und die Lindauer Zeitung schickte einen jungen, freien Mitarbeiter namens Marc Hindelang. Heute ist er Präsident. Das ist die Kurzfassung, aber die längere lohnt sich. Denn Hindelang, der selbst nur hobbymäßig Eishockey gespielt hat, ist eine nicht unwesentliche Stimme im deutschen Eishockey. In gewisser Hinsicht ist er sogar die Stimme.

Ein Lindauer prägte den deutschen Eishockeysport maßgeblich mit

Nach seinen Anfängen bei der Lokalzeitung zog es den gebürtigen Lindauer zum Fernsehen. Er machte Karriere als Sportreporter. Seit 1998 ist er beim Sender Sport 1 bei Spielen der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft zu hören, viele Jahre kommentierte er auf Sky nicht nur Spiele der Fußball-Bundesliga, sondern auch seiner Lieblingssportart. 2003 erhielt er einen Anruf aus der Heimat, am anderen Ende der Leitung war sein alter Kumpel Bernd Wucher, ein Urgestein des EV Lindau, der gerade die Schlittschuhe an den Nagel gehängt hatte. Wucher und seine Mitstreiter träumten von einer Halle und hatten auch sonst einiges vor. »Dafür brauchen wir Dein Gesicht«, sagte Wucher. Hindelangs Antwort: „Wenn, dann will ich richtig mitmachen.“ Kurz darauf wurde er zum Präsidenten gewählt.

Damals lebte Hindelang, der seit Sommer 2018 als Pressesprecher von Eintracht Frankfurt fungiert, mit seiner Familie in Frankfurt, seit einigen Jahren ist man westlich von München zuhause. Der Weg in die Heimat ist seither zwar kürzer, »aber ohne richtig gute Leute vor Ort wäre es undenkbar, dass ich Präsident bin«. Zumal er 2014 noch ein weiteres Ehrenamt übernahm: Seitdem ist er Vizepräsident des Deutschen Eishockey-Bundes und im Präsidium Vertreter der Amateure. Hindelangs großes Anliegen ist die Nachwuchsarbeit, wie er beim Gespräch an der Bande erzählt. Eishockey ist ein teurer Sport, überdies ist die Ausrüstung schwer. Wer Junge begeistern will, braucht also immer auch die Eltern. »Dazu braucht man ein gewisses Maß an Erfolg, und man muss Werbung machen, an den Schulen präsent sein«, erklärt Hindelang, während auf dem Eis die U10 und die U12 des EV Lindau trainieren. Sieben Nachwuchsmannschaften hat der Verein insgesamt, zweimal pro Woche bietet man außerdem ein Schnuppertraining für die ganz Kleinen an. Was Hindelang ganz wichtig ist: Die Trainer des EVL sind allesamt lizenziert. »Das ist nicht nur in sportlicher Hinsicht wichtig, sondern auch im Hinblick auf die Persönlichkeitsbildung. Eishockey lebt vom Teamgeist, da braucht es Leitlinien.«

Auch für die Lindau Islanders führt der Weg zum Erfolg nur über die Nachwuchsarbeit. Bis in die Junioren-Nationalmannschaft hat man eigene Spieler geführt und bietet sich als Sprungbrett für all die Spieler aus der Region an, die es noch nicht ganz nach oben geschafft haben. Alles andere ist unrealistisch angesichts eines Gesamtetats von 550.000 Euro – manch ein Konkurrent gibt das nur für die Spieler aus. Umso größer ist der Stolz darauf, dass man Lindau 2016 mit dem Aufstieg in die dritthöchste deutsche Spielklasse auf die Eishockey-Landkarte gesetzt hat.

Hier ist Sport vor allem noch eins: Sport

Inzwischen haben sich auch die 1.160 Fans in der restlos ausverkauften Arena warmgesungen. 400 Zuschauer haben allein die Gäste aus Memmingen mitgebracht. Vor dem ersten Bully noch schnell die Frage, was Marc Hindelang an Eishockey derart fasziniert: »Tempo, Athletik, Härte: Das ist einfach die beste Sportart, die es gibt. Und selbst ein langweiliges Eishockeyspiel ist spannender als die meisten Fußballübertragungen. „Das Spiel beginnt tatsächlich so rasant wie versprochen: Lindau nutzt gleich die erste Überzahl zum 1:0, nach nicht einmal drei Minuten steht es 2:0, das erste Drittel endet mit einem Zwischenstand von 3:2. Der gefeierte Mann ist bis dahin der US-amerikanische Stürmer Jeff Smith, der bei seiner Rückkehr gleich in den ersten 20 Minuten ein Tor vorbereitet und eines erzielt. Jede Mannschaft in der Oberliga darf ihre Schlüsselpositionen mit zwei Ausländern besetzen.

Im VIP-Bereich der Eissportarena gibt es in der Drittelpause Salzstangen und Bier. Überhaupt ist dieser Abend eine Reise in eine Zeit, als Sport noch nicht Show war. Es gibt vor dem Spiel keine Inszenierung, die Stehplatztribüne besteht aus vier Betonreihen, und seit acht Jahren ist die Arena zwar überdacht, an den Seiten indes schimmert der Bodensee durch. Auch die Gesänge der Fans erinnern eher an die 1980er-Jahre als an die durchkomponierten Choreografien heutiger Sporttempel.

Mit Leidenschaft bei der Sache

Es ist eng, es ist laut, aber Polizisten braucht es nicht. Das passt zu einer Sportart, in der man sich 60 Minuten lang »ordentlich eins draufgibt«, sich hinterher aber die Hand reicht, und in der selbst die Multimillionäre der nordamerikanischen Profiliga NHL Hindelangs Erfahrung nach ziemlich bodenständig geblieben sind. »Nichts ist vergleichbar mit den letzten Minuten eines intensiven Spiels«, schwärmt der Präsident am Ende der Pause noch, doch dieses Mal bringt bereits das zweite Drittel die Entscheidung. Für ein allzu hartes Foul erhält ein Lindauer Verteidiger eine fünfminütige Disziplinarstrafe, die Memminger Fans kochen, und das Spiel beginnt zu kippen. Neun Sekunden vor Ende der Unterzahl landet ein abgefälschter Schuss im Tor der Lindauer. Was folgt, beschreibt die Lindauer Zeitung am anderen Tag als »Kernschmelze«. Während sich ein leichter Nebelfilm über das Eis legt, zerbricht die Lindauer Abwehr. Auf das 3:4 folgt das 3:5, entnervt fährt Lindaus 18-jähriger Torhüter Nils Velm vom Feld und tritt vor Wut gegen die Bande.

Lindaus Trainer Dustin Whitecotton versucht alles, um seiner Spieler wieder in die Spur zu bringen: Er tätschelt über ihre Köpfe, klatscht in die Hände, gestikuliert, brüllt. Auch die Fans werden immer lauter – doch nach dem 3:6 singen nur noch die Memminger. Das »Wunder von Lindau«, das Marc Hindelang vor dem letzten Drittel selbstironisch ankündigt, bleibt aus. 5:7 heißt es am Ende, und entsprechend zerknirscht sind die Islanders. Was sie selbst kaum zu hoffen wagen: Im Rückspiel keine 48 Stunden später werden sich die Islanders mit einem glatten 4:0-Auswärtserfolg revanchieren. Die Saison verläuft weiter so turbulent: Einige Wochen nach dem Derby trennt man sich von Trainer Whitecotton, am Ende reicht es – wieder im Duell mit dem Erzrivalen aus Memmingen – in den Play-offs immerhin zur Bayerischen Vize-Meisterschaft.

Die Arbeit an der perfekten Eisfläche ist eine Herausforderung

An diesem Abend aber kehrt rasch Ruhe rund um die Arena ein. Am Hinterausgang wünschen die Memminger Fans noch höflich einen schönen Abend. Hier warten Harald Schmode und seine Kollegen schon auf ihren Einsatz. Das Team um den technischen Leiter der Eissportarena ist verantwortlich für die Qualität der Eisfläche. 11.000 Liter Wasser umfasst das System inklusive der Ausweichbehälter. Früher haben sie die 3.170 Quadratmeter große Fläche mit dem Beckenwasser des Freibads nebenan gekühlt, vor dieser Spielzeit hat der Energiekonzern Engie, dessen Kältetechniksparte ihren deutschen Hauptsitz praktischerweise nur ein paar hundert Meter weit entfernt hat, eine Soleanlage installiert. »Wir sind sehr zufrieden«, sagt Harald Schmode, doch eine perfekte Oberfläche bleibt eine Herausforderung.

Besonders viel Gefühl brauchen die Fahrer der Eismaschine, wenn der Föhn in die Halle bläst und über das Eis »schleckt«, wie die Fachleute sagen. Für mehr Details hat Harald Schmode jetzt keine Zeit. Sein Team muss das Eis für das Kontrastprogramm am nächsten Morgen vorbereiten. Um 08:15 Uhr sind die Eiskunstläufer dran.