Die fantastischen Inszenierungen der Lindauer Marionettenoper begeistern Jahr für Jahr Tausende Besucher

Anmutig tänzelt die Ballerina über die Bühne, fast scheint sie zu schweben, als sie grazil eine Pirouette dreht. Ihr weißes Tutu flattert, der Kopf wiegt sich im Takt der Musik. Der Gesichtsausdruck der Tänzerin ist konzentriert – und er bleibt es auch, als die letzten Takte verklingen. Denn ihr Gesicht ist aus Lindenholz geschnitzt, ihr Tanz wird von Fäden dirigiert. Es ist ein Puppenspieler, der ihr Leben einhaucht – sein Name ist Bernhard Leismüller.

„Ich war elf, als mir meine Mutter ein Ticket für das Marionettentheater in Bad Tölz geschenkt hat“, erinnert sich der heute 43-Jährige. „Gespielt wurde die ‚Entführung aus dem Serail‘, und was ich dort auf der Bühne erlebt habe, war magisch: die Bewegung der Figuren, die Musik, der Gesang. Alles an der Aufführung hat mich fasziniert.“ Als er das Theater verlässt, steht der Entschluss des Jungen fest: Bernhard Leismüller will Puppenspieler werden.

Nur wenige Wochen später darf der Schüler das Laien-Ensemble seiner Heimatstadt zum ersten Mal unterstützen: Vorhang aufziehen, beim Bühnenumbau helfen, die Marionetten ankleiden. Irgendwann spielt er die erste kleine Rolle – und seine Ambitionen werden mit ihm größer. Nach einer Ausbildung zum Floristen und dem Zivildienst fällt seine Entscheidung: für die Selbstständigkeit, für den Lebenstraum. Der Ort, an dem er sich als Puppenspieler einen Namen machen will, ist Lindau. Warum? „Weil die Stadt nicht zu groß ist, mein Konzept das kulturelle Angebot optimal ergänzte, und weil Lindau einfach schön ist.“

Der künstlerische Leiter, Bernhard Leismüller, inmitten seiner Marionetten. © Hari Pulko

Nur sechs Monate bis zur Erstaufführung

Noch ohne Puppen, aber dafür mit viel Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit im Gepäck spricht Leismüller 1998 bei der Stadt vor – und erhält nicht nur die Zusage, sondern auch einen Raum im Theater. Im Februar 2000 gibt er eine Anzeige auf, ‚Wer will Puppenspieler werden?‘, steht in der Zeitung – und kurz darauf über 30 Einheimische vor ihm. „Keiner von ihnen hatte irgendwelche Erfahrung oder jemals eine Marionette in der Hand“, erinnert sich Leismüller. Geschafft haben sie es trotzdem: Nur sechs Monate später, am 2. Juli 2000, geht die erste Aufführung über die frisch gebaute Bühne. Es ist die „Entführung aus dem Serail“, mit der alles begann. Sechs Darsteller halten die Fäden in der Hand und lassen die Puppen tanzen – vier von ihnen sind noch heute dabei.

„Puppenspieler ist man aus Leidenschaft“, ist sich Bernhard Leismüller sicher, „und diese Leidenschaft kann jeder in sich tragen.“ Verkäufer, Lehrer, Erzieher und Schüler kommen wöchentlich zusammen, um zu proben. Zur Zeit ist der jüngste Spieler 18, die Älteste 52 Jahre alt. Über 80 Menschen hat Leismüller in den vergangenen 17 Jahren ausgebildet, ihnen die Grundlagen des Puppenspiels beigebracht und die Choreographie für die einzelnen Rollen mit ihnen geübt. „Es dauert circa drei Jahre, bis man tatsächlich alle Handgriffe beherrscht“, so der Theaterleiter. „Wer dabei wen spielt, ist nicht relevant. Ein Mann kann eine Frau dirigieren, eine ältere Spielerin einen jungen Burschen tanzen lassen.“ Von großer Bedeutung hingegen ist es, dass die Person, die die Fäden zusammenhält, ein schauspielerisches Talent hat. Auch wenn nur die Puppe und das Bühnenbild sichtbar sind, muss der Mensch dahinter sich durch die Figur ausdrücken – oder anders herum: Die Marionette wird durch den Menschen lebendig. „Eine Holzpuppe besitzt ja keine veränderbare Mimik“, erläutert Leismüller. „Ob eine Haltung demütig oder traurig ist, darüber können bei einer Kopfbewegung Millimeter entscheiden.“

„Die Puppenspielerei muss mit großer Ernsthaftigkeit betrieben werden“

Leicht und spielerisch soll es aussehen, und nicht angestrengt wirken – auch wenn es das zweifelsohne ist. Über zwei Stunden eine 800 bis 1.500 Gramm schwere Puppe zu halten, dafür braucht es Durchhaltevermögen und einen gesunden Rücken. Ebenso Teamgeist und Sympathie füreinander, „wenn man so oft und so lange dicht an dicht beieinander steht, muss man sich schon gut riechen können“. Hinzu kommen Fingerfertigkeit und Taktgefühl, denn die Darbietungen haben natürlich den Anspruch, dem musikalischen Werk gerecht zu werden. „Stellen Sie sich mal vor, Mozart säße draußen im Publikum und schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen, wenn er sieht, was wir hier zu seiner Musik veranstalten“, sagt Leismüller, und sein Lachen ist dabei nur angedeutet. „Wenn der Sänger atmet, muss die Puppe das zeigen. Das erfordert musikalisches Gehör und ein Verständnis für das Stück. Die Choreographie wird auf den Takt konzipiert. Laufwege, Bewegungen und Emotionen sind darauf abgestimmt. Auch wenn es ‚nur‘ ein Spiel ist: Die Puppenspielerei muss mit großer Ernsthaftigkeit betrieben werden.“

Einen großen Einfluss darauf, wie gut die Puppen sich bewegen, hat das Spielkreuz – mehr als 50 verschiedene Varianten sind hier weltweit im Einsatz. In Lindau hat man sich für ein Kreuz aus mehreren beweglichen Hölzern entschieden, rund ein Dutzend Fäden hängen durchschnittlich daran. Der Kopf wird separat von einem Dreieck gehalten. Speziell angefertigte Gelenke bestimmen die Beweglichkeit und sorgen für elegante und vor allem anatomisch korrekte Bewegungen. „Für das Genre, was wir spielen, nämlich Opern und Operetten, ist diese Bauweise optimal“, erklärt der Schöpfer der Gestalten. Im besten Fall vergisst das Publikum, dass es hier gerade Puppen sieht – die Fäden verschwinden aus der Wahrnehmung. „Der Zuschauer sieht, dass die Puppe gerade ein Glas in der Hand gehalten hat. Die Frage, wie das eigentlich funktioniert, sollte sich aber nicht in diesem Moment, sondern erst nach der Aufführung stellen.“

Anmut und Grazie: Ob eine Haltung demütig oder traurig ist, darüber entscheiden bei einer Kopfbewegung Millimeter. © Hari Pulko

Ein Blick hinter die Kulissen gehört dazu

Natürlich dürfen die Gäste nach der Vorstellung hinter die Bühne schauen und all ihre Fragen loswerden – für die Puppenspieler sind das große Interesse und die Freude über die Aufführungen ein Zeichen von Wertschätzung ihrer Arbeit. Zehn Personen bilden derzeit das Ensemble, von denen drei hauptberuflich, zwei in Teilzeit und fünf in ihrer Freizeit für die Marionettenoper arbeiten.

Es ist also eine Erfolgsgeschichte, die Bernhard Leismüller hier geschrieben hat – und eine deutschlandweit einmalige noch dazu. Aus allen Regionen des Landes kommen die Gäste und die begeisterten Rückmeldungen. „Nach Lindau zu gehen, war die absolut richtige Entscheidung, ich habe sie keinen Moment lang bereut“, sagt der Oberbayer, für den am Bodensee sein Lebenstraum in Erfüllung ging: Er ist Künstlerischer Leiter und Choreograph, er schnitzt und schneidert – vor allem aber lässt er die Puppen singen und tanzen, lieben und leben. „Ich wollte nie Theaterleiter sein oder nur Marionetten bauen. Mein Daseinszweck auf dieser Welt ist Puppenspiel.“ Genau das merkt man der Lindauer Marionettenoper und ihren Figuren an – und genau das macht sie zu etwas ganz Besonderem.

Im Oktober 2020 feiert die Lindauer Marionettenoper ihr 20-jähriges Jubiläum.