Leinen los, durch die Nacht
Der Bodensee brodelt, ein Helikopter kreist über dem Lindauer Hafen, alles ist voller weißer Segel. Dann, pünktlich um 19:30 Uhr, erleuchtet ein gelbfarbener Signalschuss von Bord des historischen Raddampfers »Hohentwiel« den Abendhimmel. Für die Zuschauer an der vollbesetzten Mole ist es ein magischer Moment, für die Crews auf den Booten der Beginn eines Abenteuers. Die »Rund Um« ist das seglerische Großereignis auf dem Bodensee, und das ist hier durchaus wörtlich zu verstehen, schließlich umfasst das Teilnehmerfeld um die 400 Boote in den verschiedensten Klassen.
Groß ist auch die Distanz, zumal für die Crews, die um das »Blaue Band« segeln. Über 100 Kilometer führt der Rundkurs, bei dem die Yachten Bahnmarken vor Romanshorn, Konstanz, Überlingen und Meersburg passieren müssen. Was die »Rund Um« schließlich und nicht zuletzt zu einer großen Herausforderung macht: Sie findet zum Großteil in der Dunkelheit statt. Genau vier Stunden, 41 Minuten und 37 Sekunden brauchte der derzeitige Rekordhalter, der niederländische Skipper Johnny Hutchcroft, bei seinem Sieg 2008 – doch auch sein Katamaran war erst nach zwei Uhr nachts im Ziel.
Lindauer Segler Hemmeter hat auf dem Wasser schon viel erlebt
Veit Hemmeter kennt das einmalige Segelgefühl bei der Regatta, die der Lindauer Segler-Club (LSC) seit 1951 austrägt. Der gebürtige Lindauer ist zwar erst 31 Jahre alt, aber dennoch ein alter Hase auf den Gewässern vor seiner Heimatstadt. 15 Jahre alt war er, als er seine Premiere bei der »Rund Um« feierte, 2007 saß er erstmals im schnellsten Boot – gemeinsam mit seiner Schwester Teresa und seinem Vater Werner. »Werni« Hemmeter ist eine Legende des LSC. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte ihn die Faszination für die damals noch elitäre Sportart schon als Kind gepackt. 1979 gewann er das »Blaue Band«, war jahrzehntelang Stammteilnehmer der Rundfahrt und lässt heute die Zuschauer an seinem schier unerschöpflichen Wissen teilhaben. Im Festzelt des LSC hinter dem Clubhaus führt er durch das Geschehen an der Spitze – mit Hilfe der GPS-Tracker, die an den Booten der Topgruppe angebracht sind.
Seine Kinder haben von seiner Leidenschaft ungemein profitiert. Teresa und Veit Hemmeter gehörten zu der Crew, die den LSC wieder zurück in die Segel-Bundesliga brachte, und sind in diversen Bootsklassen erfolgreich unterwegs. Aber natürlich ist das Heimspiel nach wie vor etwas Besonderes. 2010 war Veit Hemmeter erstmals Steuermann bei der »Rund Um«, drei Jahre später feierte er seinen ersten Sieg – ein »wahnsinniges Erlebnis«, wie er sich erinnert. Auf dem Hinweg trieb der Sturm seinen Katamaran mit bis zu 30 Knoten – umgerechnet mehr als 55 km/h – voran. Auf dem Rückweg war plötzlich der Wind weg. Bis der Regen kam. Und was für ein Regen. Um 80 Zentimeter stieg der Pegel des Bodensees in dieser Nacht, der Regenschleier war so dicht, dass nicht einmal mehr die Lichter am Ufer zu erkennen waren. Im Blindflug segelten Hemmeter und seine Crew nach Hause – und das bei Höchstgeschwindigkeit.
Ganz andere Verhältnisse herrschten bei Hemmeters zweitem Sieg 2015. Aber nicht nur deshalb war diese Fahrt für ihn seine persönlich bisher schönste »Rund Um«. Es war eine Regatta aus dem Bilderbuch: wunderschön, vielfältig und herausfordernd. Nach dem Start trieb ein leichter Ostwind die Boote nach Romanshorn und von dort weiter in den traumhaften Sonnenuntergang einer Frühsommernacht. Nach einer Westwindkreuz bis Überlingen folgte eine Beruhigung, fast bis zur Flaute. Dann die nächste Wendung: Völlig überraschend zog ein Gewitter auf, und mit der Regenwalze im Nacken segelten Hemmeter und seine Crew zurück.
Wind und Wetter sind auf dem Bodensee unberechenbar
Zwei ganz unterschiedliche Wind- und Wetterverhältnisse bei zwei Wettfahrten: Genau das macht den Reiz des Bodensees aus. Andere Seen haben berechenbare Windsysteme – der Gardasee etwa –, und auf den anderen großen bayerischen Seen kann schon mal durchgängig Flaute herrschen. Der Bodensee aber, erklärt Veit Hemmeter, ist »nie monoton «. Im östlichen und westlichen Teil herrschen entgegengesetzte Windsysteme, und bei Westwind hat eine Welle von Konstanz bis Bregenz fast 60 Kilometer Anlauf, um sich aufzubauen. Und dann sind da die Alpen. Die Berge sorgen dafür, dass sich die Luft schnell abkühlen kann. Dann können sich innerhalb weniger Minuten dunkle Wolken bilden, und auf angenehme Bedingungen folgen in kürzester Zeit Wärmegewitter mit Windstärken von acht Beaufort oder mehr. Hemmeters Rat: »Noch mehr als auf anderen Gewässern müssen Segler sich im Fall des Bodensees vorher sehr genau mit den möglichen Bedingungen beschäftigen – aufgrund der Größe des Bodensees schafft man es bei Schlechtwetter nicht mehr schnell genug in einen Hafen.«
Die Vorbereitung für eine »Rund Um« ist natürlich noch um einiges akribischer. Monate vorher muss ein vier- bis fünfköpfiges Team zusammengestellt werden, das sich gegenseitig zu 100 Prozent vertrauen kann. Viele filigrane Details beim Material sind zu beachten, die Positionierung der Beleuchtungspunkte an Bord zu klären und Strategien zu berechnen. Noch länger bereitet sich der LSC auf die weit über 1.000 Segler vor. Unmittelbar im Anschluss an die Siegerehrung beginnt die Vorbereitung für das kommende Jahr. Hand in Hand mit der Stadt Lindau und den Touristikern plant man die nächste Auflage, und an den Seglertagen sind über 100 ehrenamtliche Helfer im Einsatz.
Doch mit dem Zieleinlauf ist die »Rund Um« nie beendet – nicht für die Siegercrew, die ohnehin vollgepumpt mit Adrenalin ist, und auch nicht für die Freizeitsegler, die viele Stunden später zurückkehren. Und gerade das macht die Regatta nicht nur für Veit Hemmeter zu einem großen Segelfest. Beim Weißwurstfrühstück sitzen alle zusammen, »jeder freut sich für den anderen – und jeder hat etwas zu erzählen«.