Eines Tages waren die Lindauer ihren Löwen los – eine Geschichte über eine Stadt und ihre Statue.

Stellen Sie sich kurz einmal vor, in Ihrer Familie gäbe es eine kleine Figur – vielleicht aus Stein – die gefühlt schon immer da war. Sie hat die guten Zeiten ebenso überlebt wie die schlechten, und auch wenn man sie nicht alle paar Wochen anschaut, ist es doch immer wieder schön, sie zu sehen. Zu wissen: Sie ist ein Teil von uns, unserer Familie und unserer Geschichte.

Und nun stellen Sie sich vor, dass Ihre Nachbarn eines Tages im Vorbeigehen erwähnen, diese Figur würde seit kurzem ihnen gehören. Sie könnten sie noch anschauen und sich daran erfreuen – die Besitzrechte allerdings lägen nun ein paar Häuser weiter. Eine unbequeme Vorstellung? Dann wissen Sie nun, wie sich 2003 viele Lindauer fühlten. Damals nämlich verloren sie quasi über Nacht ihren Löwen. Wie war es dazu gekommen?

Der Löwe gehört zum Hafen, der Hafen gehört zu – wem?

Erschaffen wurde der Löwe von einem Bayern: 1856 stellte der Münchner Professor Johann von Halbig den sechs Meter hohen Koloss fertig. Rund 50 Tonnen Sandstein wurden für das prachtvolle Tier verbaut, das seitdem von seinem dreistufigen Podest aus in Richtung See blickt. So weit, so gut – viele Jahrzehnte lang erfreute die Statue mit ihrer stolzen, stoischen Gelassenheit Gäste ebenso wie Einheimische. Doch im Hintergrund braute sich ein Unwetter zusammen, an dem neben dem Löwen auch Häuser, Schiffe und sogar die Eisenbahn beteiligt waren. 1962 hatte die Deutsche Bahn beschlossen, ihre Bodenseeflotte zur „Schiffsbetriebe GmbH“ zusammenzuführen. Der Sitz der Gesellschaft war Konstanz. Knapp 40 Jahre später fiel die Entscheidung der Eisenbahner, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren und das Subunternehmen auf dem Wasser an die Stadtwerke Konstanz zu veräußern. Und damit begannen die Probleme – denn mit den „Bodensee-Schiffsbetrieben“ wurden auch alle Hafen- und Grundstücksflächen verkauft. Neben zwölf Häfen, 15 Schiffen und zahlreichen Immobilien gehörte den Konstanzern also plötzlich auch ein Löwe. DER Löwe.

Sieben Jahre lang wurde darum gerungen, ob der Lindauer Löwe bayerisch oder badisch brüllt. © Hari Pulko

Der bayerische Stolz stand auf dem Spiel

Den bayerischen Hafen in badischem Besitz zu wissen, war das eine, doch dass nun auch das Wappentier in einer Fremdsprache brüllen sollte – das war zuviel für des Volkes blauweiße Seele. Die Parteien brachten sich in Stellung, zähe Verhandlungen begannen: Die Stadt Lindau, das bayerische Verkehrsministerium und die Konstanzer Stadtwerke traten an, den Zwist zu lösen. Den Löwen freizugeben, zum symbolischen Preis von nur einem Euro, boten die Konstanzer großzügig an. Doch wer würde die Unterhaltskosten für das Tier tragen? Und wieso sollte es über „fremdes  Wasser“ wachen? Die Lindauer wollten alles – inklusive ihres Hafens. Für viele ging es dabei um mehr als nur die 46.000 Quadratmeter Fläche: Das heimliche Wappen der Stadt, das Herzstück des Hafens, der bayerische Stolz – es stand viel auf dem Spiel.

Mehrere Gesprächsrunden scheiterten, weil die Preisvorstellungen beider Seiten weit auseinander lagen. Sieben Jahre lang währte der Disput, ein Rechtsstreit schien unvermeidlich – bis im Oktober 2009 die Oberbürgermeister beider Städte doch zu einer Einigung gelangten: Die Stadt Lindau wird die Eigentümerin des gesamten Hafens, die Stadtwerke Konstanz haben die Nutzungsrechte für ihre Tochtergesellschaft, die Bodensee-Schiffsbetriebe.

Am 12. April 2010 endete der Städtestreit mit der  Vertragsunterzeichnung im Lindauer Rathaus – 1,8 Millionen Euro waren Löwe und Hafen der Stadt wert.