Warum macht uns der Bodensee glücklich? Weil Wasser ein Erlebnis für alle Sinne und vor allem für die Seele ist, sagt die Psychologin Prof. Dr. Verena Kast.

Frau Prof. Dr. Kast, vor einigen Jahren stellte eine Studie im Auftrag des Touristikkonzerns TUI fest: Die mit Abstand wichtigste Dimension des Glücksgefühls im Urlaub sind beeindruckende Naturerlebnisse. Überrascht Sie dieses Ergebnis?

Prof. Dr. Verena Kast | Nein, überhaupt nicht. Im Urlaub wollen wir das erleben, was wir sonst nicht haben, und wir wollen Intensität. Im Alltag schenken wir der Natur oft wenig Aufmerksamkeit, nicht zuletzt aus Mangel an Zeit. Das ist im Urlaub anders. Außerdem nehmen wir eine beeindruckende Natur stärker war. In Summe erleben wir also ein Mehr an Intensität.

Und was hat es mit der Faszination des Wassers auf sich? Was genau suchen und finden wir dort?

Prof. Dr. Verena Kast | Wir suchen und finden sehr viel. Dazu muss man sich zunächst klarmachen, wie eng unsere Beziehung zum Wasser buchstäblich vom ersten Moment an ist. Ein schönes, warmes Wasser schenkt uns dieses Gefühl der Geborgenheit, des Aufgehobenseins, das wir vermutlich im Fruchtwasser im Bauch der Mutter hatten. Außerdem besteht der menschliche Körper ja mindestens zur Hälfte aus Wasser. Und dann ist dieses Element natürlich eine ideale Projektionsfläche für seelische Befindlichkeiten. Auch unsere Sprache ist ja voll davon: Menschen gelten als ruhige oder stille Gewässer, wir beschreiben uns als aufgewühlt, und vieles andere mehr.

 

Umgekehrt wird ja das Wellenrauschen für Entspannungstherapien und Hypnosen benutzt. Welcher Effekt liegt dem zugrunde?

Prof. Dr. Verena Kast | Wellen erzeugen ein sehr gleichbleibendes Geräusch, das zwar sehr laut sein kann, das wir aber trotzdem als angenehm empfinden. Sie werden kaum jemanden finden, der das Hotelzimmer wechselt, weil ihn das Wellenrauschen stört. Möglicherweise hat das mit der Erinnerung des Kindes an das Atmen der Mutter zu tun. Beim Blick aufs Wasser kommt hinzu: Grün und Blau sind Entspannungsfarben. Und schließlich ist Wasser immer bewegt – auch das passt zu unserem Leben. Das kann uns natürlich auch ängstigen, wenn Sie an die Brecher bei Sturmfluten im Meer denken. Diese Urgewalt sollten wir nicht ganz unterschätzen.

 

Welche Rolle spielt eigentlich unsere Herkunft für das Verhältnis zu den Elementen? Zieht es den Flachländer tendenziell an das Wasser und einen Bergmenschen in die Höhe?

Prof. Dr. Verena Kast | Es ist durchaus wichtig, bezüglich der Herkunft nicht nur auf die Familie zu schauen. Wir wachsen eben auch in einer Landschaft auf und sind in ihr zuhause. Andererseits verändern wir uns ja alle im Leben, und manchmal ziehen sich ja bekanntlich die Gegensätze an. Den Zusammenhang zur Herkunft würde ich daher nicht überstrapazieren. Ich halte die Liebe zur See und zu den Bergen vielmehr für archetypisch.

 

Wie ist das bei Ihnen persönlich? Sie sind oberhalb des Bodensees aufgewachsen, man würde Ihnen als Schweizerin ja aber auch ein besonderes Verhältnis zu den Bergen unterstellen.

Prof. Dr. Verena Kast | Berge finde ich anstrengend. Ich bin ein absoluter Wassertyp. Der Bodensee war für mich immer schon wichtig, und von meinem ersten selbstverdienten Geld habe ich mir ein Ruderboot gekauft. Ich bin gesurft, liebe es zu schwimmen und suche das Wasser. Besonders faszinierend finde ich den hohen Himmel und den weiten Blick an der Nordsee, und das hat mit meiner Kindheit offensichtlich gar nichts zu tun. Da geht es um dieses wunderbare Gefühl der Weite. Oft empfinden wir unser Leben als getaktet und eingeengt. Wasser macht uns weit – und auch Weite macht glücklich.

 

Prof. Dr. phil. Verena Kast ist seit April 2014 Präsidentin des C. G. Jung-Instituts in Zürich und seit 2001 – neben Prof. Dr. med. Dr. phil. Dorothea Huber und Prof. Dr. med. Peter Henningsen – die wissenschaftliche Leiterin der Lindauer Psychotherapiewochen. Sie ist darüber hinaus Ehrenpräsidentin der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie. Zuvor war sie Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut sowie langjährige Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Analytische Psychologie. Zur selben Zeit arbeitete sie als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis und veröffentlichte zahlreiche Bücher zum Thema Emotion, Beziehung und Symbolik, von denen einige Bestseller wurden.