Vor 97 Jahren ließ sich die Familie Hensler auf der Lindauer Insel nieder. Seitdem werden hier Kaffeebohnen aus aller Welt geröstet – nach einem althergebrachten Verfahren, bei dem vor allem eines zählt: Zeit.

Es gibt diese Tage, an denen ein ganz besonderer Geruch über dem Marktplatz der Lindauer Insel liegt – die einen erinnert er an getoastetes Brot, andere an Popcorn, und manche ahnen, woher er wirklich kommt: von frisch geröstetem Kaffee. Wer dem verheißungsvollen Duft folgt, landet im kleinen Kaffeegässele bei Familie Hensler. So unscheinbar und versteckt die Kaffeerösterei ist, so spannend und weitreichend ist ihre Geschichte.

ELISABETH HENSLER ist Diplom-Kauffrau und die Tochter des Firmeninhabers. Kaufmännisches Wissen, handwerkliches Geschick und familiäre Tradition kommen ihr bei ihrem Job zugute. © Hari Pulko

1871 gründete Anton Hensler in Wangen im Allgäu einen Kolonialwarenhandel, aus dem im Laufe der Jahrzehnte zunächst ein Supermarktunternehmen und später eine Kaffeespezialitäten-Rösterei wurde. 1923 zog das Familienunternehmen auf die Lindauer Insel um – seitdem werden hier Kaffeebohnen aus aller Welt verarbeitet. „Wir haben jederzeit Sorten aus circa 35 Ländern vorrätig und produzieren sechs bis sieben Tonnen Kaffee pro Monat“, erläutert Elisabeth Hensler.

Die 36-Jährige ist die Chefin des kleinen Teams, welches einen großen Markt bedient: Sowohl regionale Gastronomen, Hoteliers und Großverbraucher als auch Partner und Privatkunden aus dem gesamten Bundesgebiet beziehen die insgesamt ca. 80 Sorten Kaffee von der Lindauer Insel. Doch was macht ihn nun so besonders? Da ist zum einen die langjährige Beziehung der Chefin zu ihren Lieferanten. „Unser Unternehmen kann auf fast 100 Jahre Erfahrung und ein riesiges Netzwerk zugreifen – wir wissen also, von welchem Bauern auf welcher Finca wir die besten Bohnen bekommen“, so Elisabeth Hensler. Zum anderen ist es das traditionelle Röstverfahren, welches den Kaffee unverwechselbar schmecken lässt.

Während die Kaffeebohnen in der industriellen Großfertigung im Schnitt nur drei Minuten lang erhitzt werden, dürfen sie hier rund 20 Minuten lang rösten – und zwar in einem massiven gusseisernen Trommelröster, der schon seit rund 40 Jahren zuverlässig seine Dienste leistet. Hier blinkt keine digitale Füllanzeige, regelt keine Elektronik die Temperatur. Elisabeth Hensler bedient drei kleine Hebel, wenn sie die Anzahl der Gasflammen und damit die Temperatur erhöhen will, und wuchtet einen schweren Hebel nach oben, wenn die Trommel die Bohnen freigeben soll. Rund 42 Kilogramm Rohbohnen fasst der Koloss, bei 180° bis 230° C rotiert die Trommel gleichmäßig vor sich hin. Mit einem sogenannten Probezieher wird alle paar Minuten der Zustand der ursprünglich grünen Bohnen überprüft.

„Minimale Säure, maximales Aroma“ – so lautet die Formel für guten Kaffee. © Hari Pulko

Kleine Unterschiede in der Herstellung sorgen für große Unterschiede im Geschmack

„Pro Röstvorgang finden rund 300 chemische Veränderungen in der Bohne statt, eine Kaffeebohne hat bis zu 1.000 Aromen“, erklärt Elisabeth Hensler. Damit diese sich entwickeln können und gleichzeitig der Säureanteil reduziert wird, brauchen sie Zeit – und jemanden mit viel Erfahrung und Augenmaß an der Maschine. „Am Ende des Prozesses geht es um Sekunden“, sagt Elisabeth Hensler, während sie die Bohnen aufmerksam inspiziert. „Schon ein paar Momente mehr Röstzeit oder minimale Temperaturabweichungen können zu großen Unterschieden im Aroma führen – und das wäre vor allem bei Großabnehmern problematisch, die natürlich einen immer gleichbleibenden Geschmack möchten.“ Und woher weiß man, wann der richtige Zeitpunkt erreicht ist? „Das ist jahrelange Erfahrung – man sieht, riecht und hört es“, lacht die Chefin. Sie hat diese Sinneswahrnehmungen sowohl von ihrem Großvater als auch dem Röstmeister, der 50 Jahre lang im Unternehmen schaffte, vermacht bekommen.

Dabei wollte die Diplom-Kauffrau ihr Berufsleben ursprünglich ganz anders verbringen: Nach dem BWL-Studium in Nürnberg arbeitete sie bei einer Unternehmensberatung, verwaltete große Budgets und wollte die Welt entdecken. „Doch 2010 stellte sich bei uns daheim die Frage, wer das Unternehmen weiterführt.“ Elisabeth Hensler entschied sich für die Familie und die Fortsetzung der Tradition – und holt sich jetzt eben die Welt nach Lindau.

Aus aller Welt kommen die rohen Kaffeebohnen nach Lindau. Die individuell gestalteten Jutesäcke eignen sich super zum Basteln und für Upcycling-Produkte. Wer möchte, kann sich kostenlos Säcke abholen; bei Übernahme der Portokosten werden sie auch verschickt. © Hari Pulko

Hier werden Traditionen erhalten – aus Liebe zum Kaffee

Alle drei Wochen kommt neue Ware aus dem Hamburger Containerhafen auf der Insel an; mehrere Paletten voller 60 bis 70 Kilo schwerer Säcke werden dann durch eine kleine Lieferluke in den ersten Stock gewuchtet. Fünf Festangestellte und zwei Aushilfen zählt die Belegschaft, die von einer stylish-modernen Manufaktur so weit entfernt ist wie eine kolumbianische Kaffeeplantage von der Lindauer Hafeneinfahrt.

„Wir sind kein Hochglanz-Vorzeigebetrieb“, sagt Elisabeth Hensler bestimmt, „wir betreiben ein traditionelles Handwerk – und das mit sehr viel Leidenschaft.“ All ihre Angestellten sind Quereinsteiger, eine klassische Ausbildung zum Kaffeeröster gibt es nicht. „Wer die Liebe zum Kaffee in sich trägt, handwerklich begabt ist und keine Angst vor Hitze und Technik hat, ist bestens qualifiziert für diesen Job.“ Und der Traum von der großen Karriere? „Den habe ich mir ja trotzdem erfüllt – und sogar noch besser als gedacht“, findet Elisabeth Hensler: „Ich kann mich bei meiner Arbeit körperlich betätigen, kreativ sein und neue Sorten entwickeln oder auch mal auf Verkostungsreisen gehen. Vor allem aber habe ich ein Produkt, das man sehen, fühlen, riechen und schmecken kann. Unser Kaffee macht sowohl mich als auch unsere Kunden glücklich – und das ist doch das Beste, was man in seinem Job erreichen kann.“

Besucher dürfen bei der Röstung zuschauen

Die Kaffeespezialitäten-Rösterei Hensler ist Montag bis Freitag von 7 bis 12 sowie 14 bis 17 Uhr geöffnet. Wenn Sie vormittags vorbeikommen, können Sie bei der Röstung zuschauen.